TA 25.06.2024 – Langes Verfahren
Manche Fälle von Fluglärmentschädigungen sind bald drei Jahrzehnte hängig. «Das ist rechtsstaatlich problematisch», sagt Anwalt Martin Looser. Der Flughafen stimmt zu.
28 Jahre sind eine lange Zeit. 1996 besassen viele nicht mal ein Handy, weniger als 7 Prozent in der Schweiz einen Internetanschluss. Der Bundesrat setzte sich aus Namen wie Delamuraz, Koller und Cotti zusammen.
Seither ist viel passiert. Doch in manchen Dingen hat sich nichts geändert. Schmerzhaft erfahren mussten dies Tausende Liegenschaftseigentümerinnen und -eigentümer, die 1996 plötzlich von einer Zunahme des Fluglärms betroffen waren. Im Rahmen der sogenannten vierten Welle verlegte die damalige Swissair zahlreiche Flugverbindungen von Genf nach Zürich. Mit dem Ergebnis, dass ab Kloten mehr gestartet und gelandet wurde. Das bedeutete mehr Fluglärm in den Gemeinden rund um den Flughafen. Mehr Lärm führte zu Werteinbussen bei den betroffenen Liegenschaften. Ab einer gewissen Intensität kann dieser Minderwert entschädigungspflichtig werden. Rechtlich abgehandelt wird dies als «Enteignung».
Viele der betroffenen Liegenschaftsbesitzenden klagten. Sie verlangten eine Entschädigung für die Enteignung. Sie warten zum Teil noch heute. Nicht nur auf das Geld, sondern überhaupt auf eine Entscheidung.
Zügige Verfahren sind ein Grundrecht
Bestens vertraut mit dem Thema ist Martin Looser. Er ist Partner bei Ettler Suter Rechtsanwälte. Die Kanzlei machte ab 1996 für zahlreiche Eigentümer Entschädigungsforderungen. Als Looser 2008 dazustiess, vertrat diese schon in rund 2000 Fällen die Interessen von Betroffenen. 16 Jahre später sind immer noch mehrere Hundert Fälle hängig.
«Derart lange Verfahrensdauern sind inakzeptabel und rechtsstaatlich sehr problematisch», hält Looser fest. Rechtssuchende haben einen Anspruch darauf, dass ihr Fall innert einer angemessenen Zeit behandelt und zum Abschluss gebracht wird. Verankert ist dieses Recht in der Bundesverfassung und sogar in der europäischen Menschenrechtskonvention. «Kurzum: Zügige Verfahren sind ein Grundrecht.»
Wie lange ein Verfahren dauern darf, könne nicht allgemein bestimmt werden, so Looser. Es komme auf die Umstände des Einzelfalls an. «Klar ist aber, dass ein Verfahren insgesamt kaum mehr als 10 Jahre dauern darf, um noch von einer angemessenen Verfahrensdauer sprechen zu können.» Diese Dauer sei bei vielen Fälle seit mehr als 18 Jahre überschritten.
Gesetz stammt aus den 30er-Jahren
Wie kann es sein, dass in einem so fortschrittlichen und reichen Land wie der Schweiz nicht innert angemessener Frist über solche Forderungen entschieden wird? «Es sind nicht Einzelpersonen, die dafür allein verantwortlich gemacht werden können», sagt Looser. Vielmehr handle es sich um ein systemisches Problem.
Zuständig für die Behandlung der Fälle ist eine sogenannte Eidgenössische Schätzungskommission. Diese Kommissionen sind Fachgerichte, die in Enteignungssachen des Bundes Urteile fällen. Die rechtliche Grundlage für diese Rechtsstreitigkeiten bildet ein Bundesgesetz aus dem Jahr 1930.
Juristen arbeiten nur nebenamtlich
Im Normalfall kommen Enteignungen verhältnismässig selten vor. Die Kommission besteht daher aus lediglich drei Juristen, die diese Funktion nebenamtlich ausüben. Unterstützt werden sie von Fachexperten für Immobilienfragen. Historisch gesehen war das sinnvoll. Um zum Beispiel alle paar Wochen oder Monate über einen Fall zu befinden, bei dem ein Landwirt aufgrund eines neuen Eisenbahntrassees ein Stück Ackerland abgeben muss, reichte diese Besetzung.
Logisch ist aber, dass diese Schätzungskommission komplett überfordert war, als es auf einen Schlag Tausende von Entschädigungsforderungen wegen Fluglärm zu behandeln gab.
«Wenn man bedenkt, dass diese Kommissionstätigkeit als Nebenbeschäftigung konzipiert ist, wird klar: Bei der immensen Zahl von Fällen konnte das nicht mehr funktionieren», sagt Looser. «Die für den Kanton Zürich zuständige Kommission wurde völlig überrollt.» Sie verfügte in den ersten Jahren nach Eingang der Klagen weder über die nötige Infrastruktur noch über genügend Personal. Der Bund reagierte mit Verzögerung auf dieses Problem. Gemäss Looser ist die Kommission selbst heute noch personell unzureichend ausgestattet.
Lohn muss eingefordert werden
Ein weiteres Problem liegt bei der Entlöhnung der Kommissionsmitglieder. Abgerechnet wird stundenweise, für den Aufwand aufkommen muss der Enteigner, in diesem Fall die Flughafen Zürich AG. Die stundenweise Abrechnung bedeutete nicht nur einen bürokratischen Mehraufwand. Der Enteigner kann sich auch gegen die Kosten für die Arbeit der Kommission mit Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht wehren. Und zum Beispiel geltend machen, der Aufwand sei zu hoch.
Just dies ist auch passiert. Die Flughafen Zürich AG wehrte sich mehrfach mit Erfolg gegen Kostenverfügungen der Schätzungskommission. Diese Verfahren nahmen wiederum Zeit der Kommission in Anspruch, die ihr für die Erledigung der zahlreichen Fälle fehlte. «Dieses Problem ist auch heute noch nicht gelöst», hält Looser fest.
Es wäre aber falsch, die Schuld für den Schlamassel allgemein der Kommission oder dem Flughafen zuzuweisen, sagt Looser. «Wir haben es hier eigentlich mit einer Form von Staatsversagen zu tun.» Der Bund hätte eine taugliche gesetzliche Grundlage schaffen müssen, die in dieser Sondersituation eine effiziente Bewältigung der Fälle ermöglicht hätte, einschliesslich einer tauglichen Finanzierungslösung für die Arbeit der Kommissionsmitglieder. «Versagt hat das Parlament, das dieses Problem gar nicht wirklich lösen wollte.»
Es geht um viel
Die Länge der Verfahren sei für die Betroffenen primär extrem frustrierend, sagt Looser. Nicht selten hat sie aber auch höchst reale Konsequenzen. «Inzwischen gibt es nicht wenige Fälle, bei denen die Enteigneten die Erledigung ihres Falls gar nicht mehr erlebt haben», sagt Looser. Sie sind gestorben, ohne je zu erfahren, ob sie überhaupt Geld erhalten und, wenn ja, wie viel. Nicht nur sei dies unfair, weil sie selbst nicht mehr in den Genuss des ihnen zustehenden Geldes gekommen seien, es bringe auch weitere Probleme mit sich. «Zuweilen sind die Erben mit dem laufenden Verfahren nicht vertraut. Und entscheiden sich schliesslich dazu, auch weil bereits Jahrzehnte verstrichen sind, den Fall zurückzuziehen.»
Man dürfe nicht vergessen, dass es nicht um kleine Beträge gehe. «Für viele Betroffene machen ihre Immobilien einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens aus. Und von einem Tag auf den anderen war dieser Vermögensteil deutlich weniger wert», betont Looser. Ursprünglich war man davon ausgegangen, dass der Streitwert sämtlicher Fälle mehrere Hundert Millionen Franken beträgt. Inzwischen weiss man, dass dies deutlich zu hoch geschätzt war. Bisher wurden auf schätzungsweise mehrere Hundert Fälle insgesamt etwa 90 Millionen Franken ausgezahlt. Looser geht nicht davon aus, dass nochmals so viel dazukommt. Genauer sind die Zahlen schwer aufzuschlüsseln, da es viele Forderungsstellende und verschiedene Anwaltsbüros gab und nach wie vor gibt.
Flughafen kritisiert die Dauer ebenfalls
Kompliziert wird es auch, wenn ein Liegenschaftseigentümer sein Grundstück verkauft. Er behält nämlich den Entschädigungsanspruch, dieser geht nicht auf den neuen Eigentümer über. Denn dieser kauft das bereits entwertete Grundstück. «Nicht immer ist das aber bei Transaktionen allen Beteiligten klar», erklärt Looser. Was dann weitere Probleme in der Fallabwicklung nach sich ziehen könne.
Der Flughafen beurteilt das Problem ähnlich. «Viele Verfahren dauern aus unserer Sicht deutlich zu lange», bestätigt Mediensprecherin Andrea Bärwalde. Das sei für alle Beteiligten unbefriedigend und rechtsstaatlich problematisch. Dem Flughafen entstehen auch finanzielle Nachteile. Die Höhe der Entschädigung wird auf den Zeitpunkt der Enteignung festgelegt. Der Betrag muss in den meisten Fällen aber verzinst werden. Bei einer Verfahrensdauer kann dies beträchtliche zusätzliche Summen ausmachen, in bestimmten Fällen bis zu 50 Prozent des Betrags.
Kleine Verbesserungen gab es
Auch der Flughafen hatte anlässlich einer Revision des Enteignungsgesetzes vor einigen Jahren eine professionellere Organisation vorgeschlagen. «Wir fanden damit aber leider kein Gehör», so Bärwalde. Es sei dabei nicht nur um die Bereitstellung von Ressourcen gegangen, sondern auch um eine professionelle Zuweisung und Koordination der Arbeiten. «Beim Flughafen und damals beim Kanton wurden über 20’000 Forderungen eingereicht. Davon wurden bisher lediglich 2500 bei der Schätzungskommission eingeleitet.»
Immerhin hat sich die Situation mit der Entlöhnung verbessert. Der Enteigner zahlt nun nicht mehr direkt an die Kommissionsmitglieder, sondern ans Bundesverwaltungsgericht, das dann die Entlöhnung übernimmt. «Die Abrechnung bleibt für die Kostenpflichtigen aber intransparent und häufig nicht nachvollziehbar, sodass es auch heute immer wieder zu Diskussionen kommt», hält Bärwalde fest.