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Neun dramatische Sekunden im Tower und ein Startabbruchbefehl, der zu spät kam

NZZ 12.12.2018

Die Verurteilung des Fluglotsen für den Zwischenfall von 2011 erfolgte nicht wegen einer drohenden Kollision, sondern wegen eines zu spät erfolgten Startabbruchbefehls. Das Urteil ist für Skyguide eine schwere Niederlage.

Diese neun Sekunden stellt man sich schrecklich vor. Neun Sekunden, während deren es am 15. März 2011 kurz nach Mittag im Tower des Zürcher Flughafens klingelte. Ein bodenradargestütztes Warnsystem hatte angeschlagen: Zwei metallene Körper bewegten sich aufeinander zu. Vor Obergericht schilderte der Lotse, wie er fieberhaft die Fehlerquelle suchte und die Liste der Möglichkeiten im Kopf durchging. Er habe zunächst angenommen, dass sich ein Fahrzeug auf einer Flugbahn befinde. Dann habe er erkannt, dass es zwei Flugzeuge waren, die aufeinander zurasten. Der Lotse hatte einem Swiss-Jet auf der Startbahn 28 die Startfreigabe erteilt, obwohl ein zweiter Swiss-Jet auf Piste 16 noch nicht abgehoben hatte. «Ich weiss noch, dass ich dachte: Soll ich den Start abbrechen oder nicht?»

Der Vorfall endete glimpflich. Doch die Staatsanwaltschaft erhob Anklage. Am Mittwoch hat das Obergericht den 36-Jährigen verurteilt und das Verdikt des Bezirksgerichts Bülach aufgehoben. Es verurteilte den Lotsen aber nicht, weil die Kollision zweier Flugzeuge drohte, sondern, weil er den Startabbruch zu spät befehligte.

Was wäre, wenn?

Viel war in dem Prozess von Möglichkeiten die Rede gewesen. Zur Kollision am Pistenkreuz kam es deshalb nicht, weil die Besatzung der Maschine auf Piste 28 realisierte, dass sich von rechts ein Flugzeug näherte, und den Start abbrach. Die Flugzeuge wären auch dann nicht zusammengeprallt, wenn die Crew den Start fortgesetzt hätte. Aber womöglich wäre das nachfolgende Flugzeug dann gefährlichen Luftwirbeln der startenden Maschine ausgesetzt gewesen. Zudem war der Startzeitpunkt der Maschine auf Piste 16 rein zufällig. Wäre sie einige Sekunden später gestartet, wäre die Kollisionsgefahr unmittelbar gewesen.

All diese Szenarien spielten aber keine Rolle, so das Obergericht. Entscheidend sei einzig, ob der Lotse die Passagiere der Maschine auf Piste 28 in reale Gefahr gebracht habe. Zwar kam beim Startabbruch niemand zu Schaden. Dass die Crew die Gefahr erkannte, sei aber als Zufall zu werten. Der Lotse habe den Startabbruch erst zwei Sekunden später und damit zu spät befohlen. Ab einer gewissen Geschwindigkeit sei ein Startabbruch äusserst gefährlich. Beim Abbruch habe sich das Flugzeug unterhalb dieser Schwelle befunden – zwei Sekunden später darüber.

Die Frage des Startabbruchs war in der Urteilsbegründung zentral. Weiter argumentierte das Obergericht, der Lotse habe seine Pflicht verletzt und den Verkehrsfluss nicht ununterbrochen überwacht. Der Mann habe die Prioritäten falsch gesetzt, als er sich mit einem Vermessungsflug auseinandergesetzt habe. Die Auffassung der Vorinstanz, der Mann sei ein Opfer der Umstände seines Arbeitsplatzes geworden, überzeuge nicht: «Dies würde bedeuten, dass damals eine sichere Abwicklung des Flugverkehrs generell unmöglich war.»

Mit einem Bein im Gerichtssaal

Das Obergericht verurteilt den Mann für die fahrlässige Störung des öffentlichen Verkehrs zu einer bedingten Geldstrafe von 18 900 Franken. Das Strafmass ist angesichts der Bedeutung des Falls sekundär. Dieser hat Präjudizcharakter und ist für die Flugsicherung Skyguide ein schwerer Schlag. Noch während der Richter das Urteil verlas, verschickte Skyguide ein Communiqué: Das Urteil gefährde die Sicherheitskultur. Diese basiere darauf, dass Fehler gemeldet würden. Die Motivation dafür sinke, wenn Lotsen stets «mit einem Bein im Gerichtssaal» stünden, sagt Skyguide-Sprecher Raimund Fridrich. Ob der Lotse den Entscheid ans Bundesgericht weiterzieht, ist offen. Die Tendenz geht laut seinem Anwalt in diese Richtung. Die Umstände am Arbeitsplatz seien zu wenig berücksichtigt worden.

Der Lotse arbeitet seit dem Vorfall im Hintergrund. Er hatte sich 2008 bereits einmal mit einem Verfahren konfrontiert gesehen, bei dem es um eine zeitgleiche Freigabe ging. Momentan bereitet er sich auf die Rückkehr in den Tower vor. Einem Einsatz stehe auch nach dem Urteil grundsätzlich nichts entgegen, sagt Skyguide-Geschäftsleitungsmitglied Urs Lauener, aber er hänge davon ab, ob der Lotse die entsprechenden Prüfungen bestehe und das Bundesamt für Zivilluftfahrt seinen Einsatz zulasse.

SB 170072, noch nicht rechtskräftig.