Südanflug NEIN!

Zürich - Schweiz

Südstarts geradeaus
Keine Südstarts geradeaus

Der EuGH ist das Gericht der Gegenpartei

NZZ 19.02.2024 – Gastkommentar

Es ist im internationalen Recht nicht üblich, dass sich eine Vertragspartei dem höchsten Gericht der anderen unterstellt. Das Beispiel des Zürcher Fluglärmstreits zeigt, wie problematisch eine solche Konstellation sein könnte.

Carl Baudenbacher

Beim Fluglärmstreit mit Deutschland stellte sich der EuGH gegen die Schweiz.

Der Bundesrat ist gewillt, im Rahmen eines Pakets von Verträgen mit der EU die faktische Überwachung von fünf bestehenden, zwei neuen und wohl auch allen künftigen Marktzugangsverträgen mit der EU durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zu akzeptieren – auch wenn im Falle von Streitigkeiten ein vorgelagertes Schiedsgericht angerufen werden soll. Stellt sich die Frage, ob der EuGH im Falle eines solchen Vertragswerks tatsächlich ein neutrales Gericht wäre.

Zur Rechtfertigung des Auslegungsmonopols des EuGH wird von Befürwortern des Pakets ins Feld geführt, es handle sich beim EuGH um ein angesehenes Gericht, das sachlich und unparteilich urteile und nicht der EU-Kommission, sondern dem Recht verpflichtet sei. Die mit der Betrauung des EuGH einhergehende «Vergerichtlichung» sei für die Schweiz sogar durchaus positiv. Eine Analyse der zu den bestehenden bilateralen Abkommen ergangenen Rechtsprechung zeige denn auch, dass die Schweiz vom EuGH nichts zu befürchten habe.

Hier werden freilich Äpfel und Birnen verwechselt. Bei den diskutierten Fällen handelte es sich durchwegs um sogenannte Vorabentscheidungen, bei denen die Interessen von Bürgern oder Unternehmen im Zentrum standen: Beim Vorabentscheidungsverfahren legt ein nationales Gericht eines EU-Mitgliedstaats dem EuGH Fragen zur Auslegung des EU-Rechts vor. In solchen Fällen spielt es für den EuGH in der Tat keine Rolle, ob es um ein Schweizer Unternehmen oder eine Schweizer Staatsbürgerin geht.

Für die Entscheidung eines völkerrechtlichen Konflikts zwischen der EU und der Schweiz gibt es derzeit nur ein Präjudiz: den Zürcher Fluglärmstreit. Dieser fiel für die Schweiz wenig erfreulich aus. Deutschland hatte per Verordnung einseitig Luftverkehrsregeln erlassen, welche die Landung und den Start auf dem Flughafen Zürich und die Tiefflüge über deutschem Gebiet ernsthaft beeinträchtigen. Nordanflüge, d. h. Anflüge über das Gebiet Südbaden, waren um 30 Prozent zu reduzieren. Anflüge nach Kloten am Abend und frühen Morgen mussten daher grundsätzlich von Osten oder Süden her erfolgen.

Die Schweiz reichte damals bei der Europäischen Kommission eine Beschwerde ein. Sie machte geltend, die fragliche Regelung für den Swiss-Hub Zürich-Kloten sei strenger als die für die Drehkreuze der Lufthansa in Frankfurt oder München. Die Kommission entschied, dass Deutschland seine Gesetzgebung beibehalten durfte.

Gegen diesen Entscheid klagte die Schweiz beim EuGH. Dieser verwies den Fall an das Gericht erster Instanz, obwohl im Vertrag klar vom EuGH die Rede ist. Damit demütigte der EuGH die Schweiz ohne Rechtsgrundlage und ohne Not. Die Schweiz verlor in der Folge vor dem Gericht, und der EuGH bestätigte das Urteil.

Die Schweiz konnte sich nicht auf die Dienstleistungsfreiheit, das Verhältnismässigkeitsprinzip, ja nicht einmal auf die Grundrechte berufen. Dass die Menschen in Bayern und Hessen weniger gegen Flugimmissionen geschützt waren als die Schwarzwälder, wurde als unerheblich angesehen. Die Schweiz hatte auf der ganzen Linie verloren.

Bei völkerrechtlichen Konflikten wird das Vorverständnis des EuGH als Organ der EU, das deren Interessen zu dienen hat (Artikel 13 EUV), besonders ausgeprägt sein. Das ist dem EuGH nicht vorzuwerfen, es ist einfach eine Tatsache.

Es ist denn im internationalen Recht absolut unüblich, dass sich eine Vertragspartei dem höchsten Gericht der anderen unterstellt. Ausnahmen hat es historisch bei Bestehen eines «Zivilisationsgefälles» gegeben. Aber erstens wurden solche Diktate als «unequal treaties» (ungleiche Verträge) gebrandmarkt. Die Rede war auch von «judiziellem Imperialismus». Und zweitens kann von einem Zivilisationsgefälle im Verhältnis EU – Schweiz nicht die Rede sein.

Es ist davon auszugehen, dass der EuGH in Streitfällen nicht neutral wäre. Solche Verfahren zwischen dem souveränen Staat Schweiz und der supranationalen Europäischen Union wären durch einen klaren Interessengegensatz gekennzeichnet. Das Ungleichgewicht, das in diesem zentralen Punkt besteht, kann man nicht durch ein paar Ausnahmen aus der Welt schaffen – auch nicht mit einem vorgelagerten Schiedsgericht, das im Streitfall letztlich reine Staffage wäre.

Carl Baudenbacher ist Partner in einer Zürcher Anwaltskanzlei und war von 2003 bis 2017 Präsident des Efta-Gerichtshofs.